Rechtsquellen im kirchlichen Raum 2

Canones, Gottesfrieden und Dekretalen

Canones

Das kanonische Recht, d.h. das Kirchenrecht, besteht aus Canones und päpstlichen Dekretalen. Die Kanones waren Synodalbeschlüsse mit legislativem Charakter. Zumeist beschränkte sich die Geltungskraft der Beschlüsse dieser Diözesan- und Provinzialsynoden nur auf das entsprechende Bistum bzw. die entsprechende Kirchenprovinz. Wurden sie im Laufe der Zeit hingegen in größere Sammlungen aufgenommen, erweiterte sich ihr Geltungsbereich beträchtlich. Es war dabei immer üblich, dass man sich auf die Beschlüsse früherer Synoden berief. Inhaltlich wurden viele Themenbereiche berührt: Neben Recht und Verfassung sowie Doktrin, Kirchenordnung und Liturgie sind auch Bestimmungen zum Alltagsleben der Menschen (z.B. Vorschriften zur Ehe etc.) enthalten. Stellungnahmen zu politischen Fragen komplettieren das Spektrum. Man findet in den Canones also reichhaltige Informationen zur mittelalterlichen Gesellschaft.
Überliefert sind die Canones einzeln in Konzilsakten oder in Kanonessammlungen, die die Akten verschiedener Synoden zusammenstellten. Die Systematik der Zusammenstellung konnte unter chronologischen oder sachlichen Gesichtspunkten geschehen oder auch schlicht willkürlich sein. In den Sammlungen konnten zudem Exzerpte der Bibel, der Kirchenväter oder weltliche Gesetze enthalten sein. Sie waren in der Regel keine offizielle kirchliche Anfertigung, sondern sind aus interessengeleiteter, privater Initiative entstanden. Die Untersuchung der zugrundeliegenden Interessen kann dabei sehr aufschlussreich sein. Durch die Akzentuierung bestimmter Themen und ggf. Fälschungen lassen sich die Absichten des Kompilators und/oder die Interessen der Zeit erkennen.
Viele Sammlungen erlangten eine weite Verbreitung und Anerkennung. Die recht bescheidenen Anfänge entwickelten sich zu Sammlungen, die stoff- und themenreich waren. Obwohl sie lokal geprägt waren, erlangten sie eine weitreichende Geltung und Wirkung. Berühmte Sammlungen aus dem 7. und 8. Jahrhundert sind die "Hispana" und die "Dionysio-Hadriana". Bekannt und im Zuge der Kirchenreform des 11. und 12. Jahrhunderts viel genutzt sind auch die pseudoisidorianischen Fälschungen, in der das Recht der Bischöfe gegenüber dem Metropoliten betont wurde. Das Visitationsbuch Reginos von Prüm ist eine systematische Sammlung des 10. Jahrhunderts. Eine große Resonanz und Verbreitung erfuhr die Sammlung Burchard von Worms, die er in 20 Büchern nach Sachgruppen geordnet niederlegte. Nachdem in Bologna die Kanonistik aufgekommen war, wurden weitere bedeutende Sammlungen geschaffen. Das um 1140 veröffentlichte so genannte Dekret Gratians (eigentlich "Concordia discordantium canonum") wird als Höhepunkt und Abschluss der Kanonessammlungen zugleich betrachtet. Die Zusammenfassung und Bearbeitung - Gratian versuchte auch Widersprüche aufzulösen - hatte im Mittelalter größte Bedeutung, wurde später in den "Corpus iurus canonici" aufgenommen und erfuhr damit offizielle Gültigkeit. Danach begann die Zeit des klassischen von Rom bestimmten Kirchenrechts.

Gottesfrieden

Auch auf Konzilien wurde der Gottesfrieden beschlossen, der hier als eine Sonderform der Konzilsbeschlüsse Beachtung findet. Die ersten Gottesfrieden wurden am Ende des 10. Jahrhunderts auf den Friedenskonzilen in Südfrankreich erlassen. Ein Kampfverbot an bestimmten Tagen und kirchlichen Festen sollte die Fehde- und Kriegsführung eindämmen und die innere Ordnung sowie die Kirche und die Geistlichkeit sowie auch andere Personengruppen vor Gewalttaten schützen. Es wurden bestimmte Personen, Orte und Sachen unter Schutz gestellt. Zuwiderhandlungen wurden mit Buß- und Körperstrafen und in schlimmen Fällen mit der Exkommunikation geahndet. Besonders im römisch-deutschen Reich verdrängten die von weltlichen Mächten erlassenen "Landfrieden" recht bald die kirchlichen Gottesfrieden.

Dekretalen

Die so genannten Dekretalen - ihre eigentliche Bezeichnung ist "litterae" bzw. "epistulae decretales" - waren päpstliche Antwortbriefe, die kirchliche Rechtsfragen entschieden und in der Regel an Einzelpersonen gerichtet waren. Nachdem der Papst im Zuge der Kirchenreform seit dem 12. Jahrhundert eine herausragendere hierarchische Stellung erreichen konnte, erlangten auch die Dekretalen einen höheren rechtlichen Stellenwert. Hinzu kam begünstigend, dass in dieser Zeit die kanonische Rechtswissenschaft (v.a. in Bologna) eine Phase des Aufschwungs erlebte.
Dekretalen hatten verschiedene Funktionen: Sie waren (s.o.) Rechtsantworten auf Anfragen, Rechtsentscheide und Gnadenerweise. Überliefert sind sie in Sammlungen, die relativ unsystematisch sein oder auch über eine Systematik (z.B. Ordnung nach Päpsten) verfügen können. Oftmals findet sich auch hier eine Mischung aus Systematiken. Frühere Dekretalen sind in solchen Kanonessammlungen aufgegangen. Dekretalen, die mehrere Fragen entschieden, wurden im Zuge einer solchen Systematisierung oft zergliedert bzw. verstümmelt. Neben Kürzungen und Streichungen kam es sogar vor, dass die ursprüngliche Aussage eine komplett neue Ausrichtung erfuhr.
Der juristische Wert der einzelnen Dekretalen ist allerdings unterschiedlich. Es kamen vor:

  • Konstitutionen mit allgemeiner Geltung;
  • Enzykliken, die sich an die Allgemeinheit richteten, aber keine Gesetzeskraft beanspruchten;
  • Dekretalen im engeren Sinn, die aber nur für den Einzelfall galten. Für die mittelalterlichen Kanonisten waren sie deshalb nur "auctoritates", d.h. Argumente.
  • Dekretalensammlungen.

Dekratelen hatten nie die gleiche Rechtskraft wie die Canones.

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