Genealogien

Die Quellengattung der Genealogien bezeichnete im mittelalterlichen Sprachverständnis nur Verzeichnisse in Listenform. Die moderne Forschung hat hingegen ein weiteres Begriffsverständnis. Auch Kataloge, Listen oder Stammbäume in bildlicher Form können nun unter diese Quellengattung subsumiert werden. Manchmal sind Genealogien Teile einer Chronik - Cassiodor fügte eine Herrscherliste der Goten in sein Werk ein - oder anderer Quellen gewesen. Beispielsweise findet sich die Genealogie der Langobardenkönige im "Edictus Rothari", einer Rechtsquelle. Vorbildcharakter für spätere Genealogien lieferte schon der Genesisbericht der Bibel mit den Verzeichnissen der Urgeschlechter. Dennoch sind Genealogien keine christlichen oder antiken Derivate, sondern sie entstammen vielmehr einer germanischen Tradition. Frühe Genealogien finden sich im 7. Jahrhundert auch im Umkreis der irischen Stämme. Die ältesten erhaltenen Genealogien um 800/814 erfassten die Karolinger und ähnelten stark Amtslisten. Die älteste Abstammungstafel, die der Grafen von Flandern, entstammt dem 11. Jahrhundert. Sie wurde oft fortgesetzt und später zur Chronik ausgebaut. Dennoch ist insgesamt keine Vermischung von Genealogien auf der einen Seite und Chroniken und Annalen auf der anderen Seite zu beobachten. Es gab eher eine Koexistenz und eine gegenseitige Befruchtung. Seit dem späteren 11. Jahrhundert finden sich Genealogien in Frankreich und seit dem 13. Jahrhundert sind auch welche aus dem römisch-deutschen Reich erhalten, die meist aus Eigenklöstern der Fürsten stammten. Genealogien sind insgesamt ein nordeuropäisches Phänomen. Im Süden Europas findet man sie so gut wie gar nicht.
Genealogien wollten die Verwandtschaftsverhältnisse einer Familie von den Anfängen bis zur Gegenwart darstellen. Es konnten dabei auch liturgische und rechtliche Zwecke hinter der Abfassung stehen. Durch jene soll das Totengedächtnis der verstorbenen Familienmitglieder gewährleistet werden, durch diese sollen z.B. eheliche Geburt und Verwandtschaften festgestellt oder das Alter der Familie nachgewiesen werden. Vorsicht ist aber bei der Auswertung von Genealogien geraten, da sie häufiger umgearbeitet oder "korrigiert" wurden. Es können dabei bestimmte Trends den einzelnen Jahrhunderten zugeordnet werden. Die Genealogien der germanischen Volksstämme gaben als Spitzenahnen meist Wotan an. Nachdem sich die christliche Weltanschauung durchgesetzt hatte, wurden im allgemeinen Noah oder Adam als Ursprung angeführt. Später kam der Trend auf, die karolingische Aszendenz darzustellen. Hierfür wurden erst kleinere "Korrekturen" vorgenommen, während später eine direkte "Ansippung" versucht wurde. Im 11. Jahrhundert war die höfische Epik ein Anknüpfungspunkt, so dass häufig Artus und die Helden Trojas in die Genealogien der Fürsten eingingen. Im 12. Jahrhundert ist eine Rückbesinnung auf eine karolingische Aszendenz zu konstatieren. Eine Art Wettkampf um die weiteste Rückführung der Familie ist im 14. Jahrhundert zu beobachten. Im Spätmittelalter wurden vielfach fantasievolle Fabelgenealogien geschaffen, gleichzeitig finden sich aber auch erste Ansätze zu einer wissenschaftlichen Genealogie.

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