Historiographie 3

Die mittelalterliche Geschichtsauffassung

Unter "Zwecke und Ziele" (s.o.) wurde schon angesprochen, dass die Zukunft aus der Vergangenheit grundsätzlich ableitbar erschien. Durch die biblische Offenbarung - so die Auffassung - war das Ganze des Geschichtsverlaufes in Umrissen erkennbar. Eschatologisch galt als sicher, dass die Zeit der Welt einen Anfang (die Schöpfung) und ein Ende (das Jüngste Gericht) hat. Sehr verbreitet war die Geschichtsanschauung der vier Weltreiche (aus dem Buch Daniel im Alten Testament), nach welchen das Jüngste Gericht folge und Paulus' Ausspruch, dass nur noch das römische Reich vor dem Ende der Geschichte und dem Antichristen stehe. Da also nach dem Imperium Romanum kein Reich mehr zu erwarten war, entstand die Theorie der "translatio imperii", d.h., dass das Römische Reich im Laufe der Geschichte von den Römern auf die Griechen, Franken und Deutschen übertragen worden sei. Mit dem Zerfall des Reiches drohte das Ende. Auch die Interpretation der Welt in "aetates" (= Zeitalter) war verbreitet. Diese Epochenreihen wurden u.a. analog zu den sechs Schöpfungstagen gesehen, aber auch andere Untergliederungen waren möglich. Insgesamt galt es aus den Zeichen der Zeit zu erkennen, was in der Bibel angekündigt worden war oder sogar eine Vorhersage zu machen. Für den Großteil der Geschichtsschreiber, die allesamt theologisch gebildet waren, gehörte diese Einteilung allerdings eher zum Hintergrundwissen als zum dargestellten Interpretationsrahmen.

Grundsätzliche Schwierigkeiten und Probleme der Typologisierung

Es ist in der Geschichtswissenschaft noch kein eindeutiges und einheitliches System der Quellengattungen ("Genera") aufgestellt worden, da die Kriterien der Abgrenzung entweder formal und/oder inhaltlich begründet wurden. Die Abgrenzungen sind zudem in den seltensten Fällen mittelalterlich. Genuin mittelalterliche Begriffe wie "historia" oder "res gesta" sind hingegen für eine moderne Abgrenzung zu unscharf. Ebenso lassen sich die Quellengattungen nur in ihren Idealtypen eindeutig voneinander abgrenzen. Die Übergänge zwischen den Gattungen sind in der Realität meist fliessend, so dass Überschneidungen unvermeidbar und zahlreich sind. Im Zweifelsfall ist der Autorenabsicht bzw. dem Zweck der Schrift Vorrang bei der Einordnung einzuräumen. In der grundsätzlichen Unterscheidung der historiographischen Quellen in Gruppen, die unter formalen Gesichtspunkten bzw. inhaltlichen Aspekten abgegrenzt werden können, folgen wir im Wesentlichen der Einteilung von Hans-Werner Goetz (Proseminar). Eigentlich müsste auch die Geschichtsdichtung unter Punkt a) behandelt werden, da sie nur unter formalen Gesichtspunkten eine eigene Gattung darstellt. Aus inhaltlichen und praktischen Gründen wird dieser Punkt aber an den Schluss gestellt.

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