Volkschroniken, "origo gentis" und Nationalgeschichte

Der folgende Teil soll Chroniken zusammenfassen, die die Geschichte eines Volkes, eines Landes oder eines souveränen Herrschaftsbereiches von den Anfängen bis zur Gegenwart darstellen. Diese Chroniken berühren damit die ethnische, territoriale und herrschaftstheoretische Dimension des historischen Denkens. Ein übergreifender Begriff für Chroniken, die diese Dimensionen behandeln, ist ebenso umstritten wie dessen Reichweite. Weite Verbreitung hatte der Begriff "Volksgeschichte", der aber von einigen Forschern als anachronistisch und wegen dessen unliebsamen Assoziationen abgelehnt wird. Auch der quellennahe Gegenvorschlag "origo gentis" (=gentile Herkunftsgeschichte) fand keine einstimmige Aufnahme, da er nur den Aspekt des Ursprunges eines Volksstammes anspreche, dabei den geplanten Entwurf einer Gesamtgeschichte aber vernachlässige. Auch ist fraglich, bis wann man die "Volksgeschichten" ansetzen kann (enden sie mit Saxo Grammaticus?) und ob sie die Nationalgeschichten des Hoch- und Spätmittelalters noch umfassen. Weitere Aspekte sind umstritten und zusätzliche Schwierigkeiten ergeben sich, wenn man die nicht-deutschsprachige Diskussion mit einbezieht. Da hier nicht der Ort ist, diese Kontroversen zu klären, beschränken wir uns darauf hier die Chroniken zusammenzufassen, die die drei oben ausgewiesenen Bezugsdimensionen berühren.

Chroniken dieser Kategorien wollten u.a. die Geschichte eines Volkes oder Stammes von den Ursprüngen bis zur Gegenwart beschreiben. Die ersten Chroniken fanden sich in den Germanenreichen. Die schriftlosen Germanen waren zur Erinnerung bis dahin auf ihre Geschichtsdichtung angewiesen, die Cassiodor, der wohl auf Veranlassung Theoderichs des Großen 551 die Geschichte der Goten schrieb, den Stoff für sein Werk lieferte. (Dieses Werk ist allerdings nur in Auszügen von Jordanes erhalten.) Über die Franken schrieben Gregor von Tours und Fredegar, über die Langobarden schrieb Paulus Diaconus, über die Angelsachsen Beda und über die Goten, Wandalen und Sueben Isidor von Sevilla. Die Autoren suchten den Anschluss an die Römische Geschichte, um ihr die germanische entgegen zu stellen. Dabei fällt auf, dass die Werke von den Angehörigen älterer Kulturen verfasst wurden: Cassiodor selbst war nicht Gote, sondern Römer, ebenso wie Gregor von Tours kein Franke, sondern Romane war etc. Im 10. Jahrhundert, unter den ottonisch-sächsischen Königen, schrieb Widukind von Corvey die "Res gestae Saxonicae", eine Stammesgeschichte, die zuweilen in Reichsgeschichte überging. Im hohen Mittelalter finden sich Darstellungen über die Normannen in der Normandie (Dudo von St. Quentin), die Böhmen (Cosmas von Prag), Polen (Gallus Anonymus) und die Waliser (Giraldus Cambrensis), die zuweilen als Ausdruck eines erwachenden National- oder Volksbewußtseins bewertet wurden. Ob man diese Wertung übernimmt oder nicht, ein Zusammengehörigkeitsgefühl kann auf jeden Fall konstatiert werden. Im 12. Jahrhundert kam in England mit William of Malmesbury und Henry of Huntington am ehesten wieder eine "nationale" Geschichtsschreibung auf und ebenso in Frankreich entdeckte man die fränkisch-karolingischen Wurzeln, und so ließ Abt Suger sämtliche Überlieferung zusammenfassen. Auch in Spanien entsteht im 13. Jahrhundert die "Primera crónica general de Espana" in Volkssprache. Im Reich ist keine Geschichtsschreibung dieser Art zu finden. Die Geschichte "Deutschlands" wurde nicht als etwas Eigenes gesehen, sondern man sah sich als Träger des Römischen Reiches, womit die Volksgeschichte zu Gunsten der Heilsgeschichte zurücktrat.

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