4. Die Kritik der Quelle

Die Kritik erschließt unter Berücksichtung der Analyse und Syntheseaus  Werturteile (Tendenzen) und Tatsachen der Quelle. Auch dieser Arbeitsschritt wird von Theuerkauf in zwei Schritte unterteilt – Zum einen die Herausarbeitung  der Werturteile und sowie die Darstellung der Tatsachen.

Kritik der Quelle I: Werturteile (Tendenzen)

In dieser Phase ist zu überprüfen, inwieweit den Aussagen der Quelle aufgrund ihrer Traditionsgebundenheit und ihrer Strukturierungsfunktionen Werturteile zugrunde liegen. Bei der Ermittlung der einer Quelle zugrunde liegenden Werturteile ist das Ausmaß der Komplexität der Aussagen und der Informationsgrundlage des Urhebers zu berücksichtigen. Die ausdrücklichen oder bewussten Werturteilen sind von den latenten, auch widersprüchlichen Werturteilen zu unterscheiden .
Werturteile treten auf folgende Art und Weise auf:

  • durch Übernahme tradierter Meinungen: Der Urheber hat bestehende Werturteile aus seiner Zeit unkritisiert in seine Quelle übernommen.
  • in der normativen Absicht: Inwiefern tritt der Urheber für oder gegen Verhaltensweise und Interessen bestimmter Sozialgruppen oder Parteien ein. Geht es dem Urheber um die Stabilisierung von bestimmten sozialen Verhaltensweisen oder tritt er für ihre Veränderung ein?
  • durch Auslassung, verzerrter Widergabe von Informationen, Übertreibung, einseitiger Beurteilung, von Sachverhalten; Inkonsequenzen, Fingierung und Fälschung.

Kritik der Quelle II: Tatsachen

Bei diesem Arbeitsschritt geht es um die Frage, welche der geschilderten Sachverhalte als Tatsachen einzugrenzen sind. Unter Berücksichtung der bisherigen Interpretation findet die Überprüfung der Tatsächlichkeit der Sachverhalte auf mehreren Ebenen statt:

  • der Tatsächlichkeit der Überlieferung
  • der Tatsächlichkeit der Aussagen
  • der Tatsächlichkeit der ausgesagten Sachverhalte

Unter Tatsächlichkeit der Überlieferung versteht man, ob die Quelle tatsächlich als das überliefert ist, was sie vorgibt zu sein. Dies lässt sich daran überprüfen, ob die Quelle gefälscht, verfälscht oder echt ist. Aber auch eine gefälschte oder verfälschte Quelle ist tatsächlich überliefert, erhebt aber einen anderen Anspruch.

Die Tatsächlichkeit der Aussagen einer Quelle hängt von der Qualität der Überlieferung und von der Verständlichkeit der Schrift und der Sprache ab. Beispielsweise kann die Quelle durch den Textverlust oder die Textentstellung unheilbar entstellt sein. Auch kann die Quelle aufgrund der nicht entzifferbaren Schrift oder einer nicht vollständig verstandenen Sprache ganz oder teilweise unverständlich sein.

Inwiefern die in der Quelle dargestellten Sachverhalte tatsächlich sind, ist ein zentraler Aspekt in der positivistisch ausgerichteten Geschichtswissenschaft. Hierfür müssen die in der Quelle getroffenen Aussagen nach dem Grad ihrer Komplexität, ihrer Werturteilsgebundenheit und  dem Grad der Informationen des Urhebers der Quelle und der Möglichkeit ihres gegenwärtigen Rezipienten analysiert werden. Durch einen Vergleich mit anderen Quellen können zusätzliche Informationen gewonnen werden.

  • Komplexität der Aussagen: Hier muss zwischen Aussagen über einfache (beispielsweise zeitlich und räumlich eng begrenzte Ereignisse) und Aussagen über komplexe Sachverhalte (zum Beispiel die Gesamtcharakteristik eines Menschen oder einer Sozialgruppe) differenziert werden. Komplexe Aussagen werden stark durch Werturteile beeinflusst und Sachverhalte können leicht einseitig, verzerrt oder falsch dargestellt werden.
  • Werturteilsgebundenheit: Bei der Wertgebundenheit von Aussagen muss zwischen der Sicht des Urhebers und der Sicht des Rezipienten der Quelle unterschieden werden.

1. Werturteilsgebundenheit aus Sicht des Urhebers in Form von:

  • Aussagen, die vorgeben, über Tatsachen zu berichten
  • Aussagen, die Zweifel des Urhebers an den mitgeteilten Sachverhalten erkennen lassen
  • Aussagen, die Werturteile des Urhebers mitteilen oder voraussetzen

2. Werturteilsgebundenheit aus Sicht des Rezipienten durch:

  • Aussagen, die durch erkennbare Werturteile des Urhebers sicher oder wahrscheinlich betroffen sind und Sacherverhalte dadurch einseitig oder falsch darstellen
  • Aussagen, die erkennbaren Werturteilen des Urhebers widersprechen. Diese sind nach Theuerkauf uneingeschränkter glaubwürdig.

Informationen des Urhebers der Quelle:

Bei der Analyse muss der Informationsstand des Urhebers eingeschätzt und berücksichtigt werden. Infolge dessen ist zu unterscheiden zwischen Aussagen über Sachverhalte, über die der Urheber aufgrund seines Status und seiner sozialen Lage gut informiert sein konnte sowie Aussagen, bei denen die Informationsgrundlage des Urhebers zweifelhaft ist.

Vergleich der Quelle mit anderen Quellen:

Der Rezipient kann durch den Quellenvergleich weitere Informationen erhalten, wenn die Aussagen der verglichenen Quellen ganz oder teilweise unabhängig von denen der zur kritisierenden Quelle sind.

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