Quellengruppen

Die Weite der Definition macht aber auch Strukturierung nötig. Die Einteilung der Quellen bzw. die Kriterien dafür sind in der geschichtstheoretischen Literatur umstritten; zweifellos gibt es keine absolut gültige Lösung, da die Quellen "nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck der historischen Erkenntnis sind" (v.Brandt 50). Wäre dies anders, würde Geschichtswissenschaft nur das im Grunde tote Material zum Forschungsgegenstand machen und nicht vielmehr dieses als Quelle einer durch die Gegenwart geleiteten Erkenntnis nutzen, gälte mit Henry Ford: "History is bunk - Geschichte ist Müll" (vgl. Fischer Lex. Gesch.270). Alle Gliederungen können so nur vom Erkenntnisziel bestimmte Gültigkeit beanspruchen.
Denkbare Kriterien für Quellengruppen wären:

  1. der Stoff der Quellen (Stein, Metall, Pergament, Papier);
  2. die Aussageform (Gerät, Bild, Schrift, Sprache);
  3. die Zwecksetzung bzw. der wissenschaftssystematische Ort (rechts-, kirchen-, wirtschafts-, kulturgeschichtlich);
  4. der Aussagewert bzw. die Nähe zum historischen Ereignis (primäre und sekundäre Quellen);
  5. die inneren Eigenschaften bzw. das Bewusstsein der Urheber ("Überreste", "Tradition").

Das erste Kriterium ist relativ beliebig und erlaubt kaum nähere Aussagen; anders ist dies für das zweite und dritte. Die Aussageform ermöglicht eine Gliederung der Quelle in (1) Texte oder schriftliche Quellen, (2) Gegenstände, Werke oder Sachgüter und (3) Tatsachen und Zustände (wie Institutionen, Gebräuche und Sprachen). Nach dem dritten Kriterium müssen in der Beschäftigung mit den Quellen methodisch Kenntnisse anderer Wissenschaften eingebracht werden, so der Rechtswissenschaft, Theologie, Wirtschaftswissenschaften, Philologie oder Kunstgeschichte. Dabei erlaubt eine Quelle mehrere Zugänge: Ein Klosterurbar kann nach den Rechten des Klosters, nach seiner wirtschaftlichen Lage oder nach der Latinität seiner Schreiber befragt werden.

Eine wichtige Unterscheidung bietet das vierte Kriterium, das von der Nähe der Quelle zum historischen Ereignis ausgeht. Dies ist ein wichtiges Argument innerhalb der Quellenkritik, d.h. der Feststellung des Erkenntniswerts nach inneren Merkmalen. Danach ist unter gleichen Voraussetzungen (Zuverlässigkeit, Bildung usw.) die Aussage eines Augenzeugen über die eines anderen Zeitgenossen zu stellen, der nicht selbst anwesend war: primäre und sekundäre Überlieferung. Nicht immer muss die Primärquelle genauer sein; vielmehr kann ein gewisser zeitlicher Abstand einen besseren Überblick erlauben. Analog zur Trennung von primären und sekundären Quellen muss innerhalb der Sekundärquellen zwischen den Ereignissen näher- und fernerstehenden Quellen unterschieden werden; ein Werk wie die Weltchronik Ottos von Freising kann unter beiden Aspekten untersucht werden. Für moderne historische Darstellungen hat sich in diesem Zusammenhang der Begriff "Sekundärliteratur" eingebürgert.

Auf das fünfte Kriterium war schon anhand der Überlegungen Droysens und Bernheims hingewiesen worden. Bernheim hatte mit dem Begriff der Tradition als absichtlicher oder willkürlicher Überlieferung den bei Droysen nur untergeordnet verwendbaren Begriff der "Quellen" ersetzt; zugleich waren die Droysenschen "Denkmäler" von ihm und den Späteren der Tradition bzw. den Überresten als unabsichtlicher oder unwillkürlicher Überlieferung zugeordnet worden. Diese Unterscheidung zwischen Überresten und Tradition ist vom historiographischen Standpunkt von maßgebender Bedeutung.

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