Latein im Frühmittelalter

Das merowingische Gallien

In Gallien grenzte sich relativ früh und entschieden die Volkssprache vom Latein ab. (Eine Besonderheit dabei ist, dass sich im Hochmittelalter im volkssprachigen Bereich nicht eine, sondern zwei Hochsprachen herausbildeten: im Norden das Altfranzösische und im Süden das Altprovenzialische.) Das Latein der Merowinger galt später als schlimmste Sprachzerrüttung. Dem sollte man allerdings in Rechnung stellen, dass in der späten Kaiserzeit gerade in Gallien die rhetorische Sprach- und Literaturpflege einen besonderen Stellenwert einnahm, was den folgenden Generationen noch bewusst war. Dies nahm man sich als Beispiel und versuchte die Tradition fortzuführen. Der Versuch eines Wiederaufbaus gelang allerdings nur auf niedrigerem Niveau. Die Schriftsprache blieb aber immer der zentrale Orientierungspunkt, obwohl der Umgang mit dem Lateinischen Flexibilität und die Integration volkstümlicher Elemente zeigt. So fanden besonders fränkische Rechts- und Sozialbegriffe Eingang in die Sprache. Man erkennt allerdings nicht nur die Bestrebung, die Verständlichkeit zu erhöhen, sondern auch einen gewissen künstlichen Charakter. Häufig ist eine umgekehrte Monophtongierung von ae: etiam -> aetiam, me -> mae. Die Wortausgänge sind oft unklar: imperii -> imperiae. Die Flexionsklassen vereinfachen sich so sehr, dass am Schluss nur noch der Unterschied zwischen Nominativ und Nicht-Nominativ steht. Schon im 8. Jahrhundert gab es unter Pippin dem Kurzen Versuche einer Normierung.

Italien

In Italien ist hingegen länger eine größere Kontinuität zu beobachten. Unter Theoderich hatten Boethius und Cassiodor einen großen Einfluss auf die Bewahrung des antiken Erbes. Erst mit den Langobarden kam es zu einem Niedergang der Bildungseinrichtungen. Auch hier gehen ins Lateinische einige langobardische Lehnwörter ein, z.B. (h)arrimannus = Heermann, die vorwiegend aus dem sozialen oder rechtlichen Bereich kommen. Erst ab dem 10. Jahrhundert war dem einfachen Volk das Lateinische nicht mehr verständlich. In den byzantinisch beeinflussten Regionen spielte hingegen das Griechische eine große Rolle.

Die iberische Halbinsel

Wie in Italien so überwogen auch auf der iberischen Halbinsel noch unter den Westgoten die Kontinuitäten. Es sind wenige Sonderentwicklungen und Verfallserscheinungen zum kaiserzeitlichen Latein zu konstatieren. Die Unterschiede zwischen der Schriftsprache und der gesprochenen Volksprache waren auch in der frühmittelalterlichen Übergangszeit nicht allzu groß. Der entscheidende Kontinuitätsbruch ist 711 anzusetzen: 711 eroberten die Araber die Halbinsel von den Goten. Einige Kenntnisse und Fähigkeiten konnten gerettet werden; die Unsicherheit im Gebrauch stieg aber. Die Tradition der Westgotenzeit half aber eine Literatursprache zu formen, die sich dann von der Volkssprache abhob. Um das Jahr 1000 waren Volksprache und Latein auf der iberischen Halbinsel deutlicher getrennt.

England

In England wurde die lateinische Sprache zweimal in zwei verschiedenen Vorgängen eingeführt! Der erste Vorgang war die Eroberung Britanniens im Jahre 43 n.Chr. durch Kaiser Claudius und der Ausbau zu einer römischen Provinz. Im für das Römische Reich unruhigen 5. Jahrhundert wurde die Provinz aufgegeben und sich selbst überlassen. Die Invasion der Angeln, Jüten und Sachsen vernichtete dann die Überreste der römischen Kultur. Im 6. und 7. Jahrhundert war ein vollständiger Neuansatz der lateinisch-christlichen Kultur durch Missionare aus dem Mittelmeerraum und vor allem aus Irland nötig. Die angelsächsische Volkssprache war schon früh schriftfähig, und so waren Latein und Volkssprache deutlich voneinander getrennt und auch Verflechtungen der beiden Sprachen sind nicht zu beobachten. Man nutzte ein gepflegtes, spätantikes Latein, welches kaum über auffällige Züge verfügte. Mit der Eroberung Englands durch die Normannen 1066 wurde Latein zur Mittlersprache zwischen Englisch und Anglonormannisch. Die drei Sprachen beeinflussten sich nun gegenseitig stark.

Irland

Irland ist ein Sonderfall unter den Regionen, die im Mittelalter Latein genutzt haben, da es nie Teil der Romania war. Latein ist noch in der (ausgehenden) Antike auf die Insel gekommen, hat sich aus den eben erwähnten Gründen aber nie zu einer vom Volk gesprochenen Sprache entwickelt. Die lateinische Sprache ist im Zuge der Christianisierung auf der Insel aufgenommen worden, wohl hauptsächlich in seiner gallisch ausgeprägten Form und weniger in der Form des nur oberflächlich romanisierten Britanniens. Die irische Volkssprache war stark entwickelt und verfügte auch über eine schriftlich weitergegebene Literatur. Das kulturell-geistlich-literarische Leben spielte sich in einem Wettbewerbsverhältnis ab. Eine Zweisprachigkeit war auf der Insel in den entsprechenden Kreisen gegeben. Das Latein selber war kaiserzeitlich-christliches Buchlatein, das während der Christianisierung nach Irland gekommen ist und wurde in starrer, entwicklungsloser Form weitergegeben. Die Einflüsse zwischen Altirisch und Latein waren verhältnismäßig gering. Dieser Charakter blieb auch in den folgenden Zeiten bestimmend, durch die irische Mission oder die wissenschaftliche und schriftstellerische Betätigung kam es zu einem gewissen Austausch.

Vorige Seite Nächste Seite