Einige allgemeine Charakteristika

Die lateinische Sprache des Mittelalters brachte die erste und reichste Buchliteratur des mittelalterlichen Okzidents hervor. Der Wert dieses Schaffens und die Originalität sind mittlerweile unumstritten, wobei besonders der lebendige Umgang mit der Sprache positiv hervorgehoben wird. Als Beispiel für diesen neuen Umgang sei erwähnt, dass man das Lateinische den eigenen sprachästhetischen Vorstellungen anpasste, indem man im Gegensatz zur Antike, in der in der Regel nicht gereimt wurde, den Endreim als neues Stilmittel verwendete. Aber nicht nur der Reim, sondern auch die Rhythmik hat in Prosa und Poesie für eine spezifisch mittelalterliche Ausprägung gesorgt. Des Weiteren wurden im Mittelalter die verschiedenen Literaturgattungen weiterentwickelt. So versuchte z.B. Hrotsvit von Gandersheim Terenz' Komödien Konkurrenz zu machen, indem sie die ersten christlichen Dramen verfasste. Neben diesen "lateininternen" Entwicklungen übte das Lateinische gleichzeitig eine bedeutende Wirkung auf die Entwicklung der Volksprachen aus. In einer Art Wettbewerb trug es dazu bei, dass sich die Volkssprachen soweit entwickelten, dass sie den höchsten sprachlichen Anforderungen genügten. Das mittelalterliche Latein ist daher die literatur- und geistesgeschichtliche Grundlage der volkssprachigen Literaturen (vgl. Kindermann).
Das mittelalterliche Latein war die natürliche Fortsetzung des Spätlateins. Mehrere Elemente sind charakteristisch: Zum einen ist das christliche Latein hervorzuheben, welches sich aus dem Bibellatein der Vulgata-übersetzung, dem liturgischen Latein, das sich durch stete Wiederholung einprägte und dem Latein der Kirchenväter, durch das viele griechische und einige hebräische Wörter Eingang fanden, zusammensetzte. Zum anderen war auch das Volkslatein (zuweilen auch Vulgärlatein genannt, wobei diesem "Terminus" viele verschiedene Bedeutungen zugeschrieben wurden), ein wichtiges Element. Hierbei handelte es sich um das gesprochene Latein der Reichsteile mit romanischer Bevölkerung, von dem Teile in die schriftliche Hochsprache eindrangen. Als nächstes sei das gelehrte Latein erwähnt, welches sich am klassischen Latein orientierte und Elemente der Fachsprachen aufnahm. Es dürfen auch nicht die Einflüsse der Volkssprachen vergessen werden, die sich u.a. in Lehnwörtern und Lehnübersetzungen manifestierten. Außerdem glich sich die lateinische Syntax an die der Volkssprache an.
Im Mittelalter wurden immer wieder Perioden des Verfalls der Sprachnutzung gesehen, denen "Renaissancen" folgten. Der Verfall manifestierte sich in einer zunehmenden Aufnahme volks- oder vulgärlateinischer Elemente, während man sich im Gegenzug in einer Renaissance wieder an den Autoren der Antike orientierte. Im Allgemeinen kann folgendes Schema entwickelt werden: - Der Verfall des frühen Mittelalters (5.-8. Jahrhundert): In dieser Periode entwickelten sich die Volkssprachen vom Latein weg und es überwogen die Elemente der gesprochenen Sprache, was dem Latein den Vorwurf der Entartung eingebracht hat. - Die Hochphase des mittelalterlichen Lateins im 9.-13. Jahrhundert war durch die karolingische Renaissance und die Renaissance des 12. Jahrhunderts stärker von volks- oder vulgärsprachlichen Elementen befreit und lehnte sich wieder mehr an die klassischen Vorbilder an, was durch einen systematischen Unterricht begünstigt wurde. - Im 14. und 15. Jahrhundert wurde Latein insgesamt durch die Volkssprachen zurückgedrängt und entwickelte sich zu einer Wissenschaftssprache der Gelehrten oder einer Amtssprache, die sich im Zuge der Renaissance an der Klassik orientierte (auch Neulatein genannt).
Wie schon angedeutet, wird Latein oft als "Vatersprache" bezeichnet. Damit wird eines der eigentümlichsten Charakteristika der Sprache angedeutet: Vatersprache will heißen, dass Latein in weiten Teilen des Mittelalters eine Mischung aus Fremd- und Muttersprache war. Der fremdsprachliche Charakter ist in der Form der Aneignung zu finden. Latein musste in der Schule - meist mühevoll - erlernt werden. Der muttersprachliche Charakter offenbart sich in der Anwendung. Das Lateinische wurde nicht als etwas Festes übernommen, sondern man ging mit ihm wie mit der Muttersprache um: Man passte es den Erfordernissen mit dem Ziel an, sich so differenziert auszudrücken wie in der Muttersprache. Im Endeffekt hielt dies das Lateinische lebendig.

Vorige Seite Nächste Seite