http://www.typografie.info/typowiki/images/0/0b/Roman_inscription.jpg

Einführung

Wer sich mit den Quellen des Mittelalters auseinandersetzt, trifft unweigerlich auf Latein. Latein tritt hier aber nicht in seiner klassischen Form, d.h. der spätrepublikanisch-frühkaiserzeitlichen Form auf, sondern in seiner mittelalterlichen Ausprägung. Gemeinhin wird diese Ausprägung "Mittellatein" genannt. Als historisch-soziologischer Hilfsbegriff mag dieser Terminus nutzen, es ist aber zu bedenken, dass das "Mittellatein" kein in Einzelzügen fest umgrenzter Sprachzustand ist. (Es gibt bisher noch keine Grammatik des Lateinischen des Mittelalters, die von einigen Gelehrten aus den eben angeführten Gründen allerdings auch für unmöglich gehalten wird.) Insofern sind meist genaue Zeitangaben sinnvoller, als Mittellatein als vereinfachendes Etikett zu verwenden. Die lateinische Sprache des Mittelalters entstand nicht - wie die Humanisten glaubten - durch einen gezielten Angriff der Barbaren auf die Sprache, sondern wegen der politischen Dezentralisierung und der Transformation des römischen Reiches, was eine regionale Differenzierung und einen Zerfall des öffentlichen Schulwesens zur Folge hatte. Das Latein des Mittelalters war die natürliche und organische Fortsetzung des spätantiken Lateins, dem so genannten Spätlatein. Man versuchte weiterhin der antiken Sprachpraxis zu folgen. Im Übrigen wurde die Zäsur vom Spätlatein zum "Mittellatein" von den Zeitgenossen nicht wahrgenommen. Erst aus der Retrospektive lässt sich viel Trennendes, aber auch viel Gleichartiges erkennen.
Der hier betrachtete Zeitraum ist deckungsgleich mit der landläufigen Konvention zur Datierung des Mittelalters. Mit Übergangszonen nimmt man deswegen die 1000 Jahre zwischen 500 und 1500 als maßgeblich für die Nutzung von Latein in seinen mittelalterlichen Ausprägungen an. (Natürlich ist diese Konvention nicht unumstritten und zahlreiche Gegenvorschläge und weitere Unterteilungen sind gemacht worden.) In diesem Jahrtausend hat die lateinische Literatur mehr Bezug zum christlichen Mittelalter als zur heidnischen Antike. Das alte Erbe wird aber dennoch von vielen, so z.B. Isidor von Sevilla, als erhaltenswert angesehen. Das Spätlatein, das man beim Verschmelzungsprozess von antikem Erbe und Christentum übernimmt, wird im Laufe der Zeit so flexibel gehandhabt wie man es für eine differenzierte Ausdrucksfähigkeit brauchte. Dabei greift man auch auf Begriffe aus der Muttersprache, d.h. einer Volkssprache, zurück. Die Einwirkungen des Lateinischen auf die Volksprachen und die Einflüsse der Volkssprachen auf das Lateinische waren von hoher Bedeutung, aber regional unterschiedlich ausgeprägt. Die Ausgrenzung von Latein und den romanischen Sprachen fand ungefähr in den Jahren zwischen 650 und 750 statt. Eine Zweisprachigkeit war also häufig gegeben: Man nutzte die regionale Muttersprache und Latein als "Vatersprache", die man in der Schule lernte. (Einschränkend sei erwähnt, dass in der Regel nur ein geringer Teil der Bevölkerung schreib- und lesekundig war.) Insgesamt übertrifft das lateinische Schrifttum des Mittelalters das Schrifttum der Antike um ein Vielfaches. Viel ist noch nicht ediert, geschweige denn übersetzt. Hohe Produktivität bleibt allemal zu konstatieren, aber oft auch hohe Qualität. Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit dieser Epoche sind Kenntnisse des Lateinischen also unabdingbar.
Im Folgenden werden einige allgemeine Charakteristika des Lateinischen im Mittelalter, die Ausbreitung des Sprachraumes und einige regionale Eigenheiten vorgestellt und die Anwendung des Lateinischen als gesprochene Sprache angedeutet. Für den praktischen Umgang mit lateinischen Quellen werden einige wichtige stilistische, orthographische, grammatische und lexikalische Besonderheiten, die "Stolpersteine" also, angedeutet sowie eine kommentierte Literaturliste mit besonderem Augenmerk auf die Wörterbücher angehängt. Dies alles folgt mit dem Schwerpunkt Mittelalter, wobei Entwicklungen am Übergang zur Neuzeit Berücksichtigung finden sollen. Die Betrachtung erfolgt aus einer hilfswissenschaftlichen Perspektive.

Vorige Seite Nächste Seite