Urkunden und verwandte Quellen

Neben historiographischen und hagiographischen Werken stellen Urkunden die wichtigsten Quellen für den Mediävisten dar. Über viele Bereiche lassen sich aus Urkunden Informationen entnehmen. Aufgrund ihrer dichten Überlieferung wird das Mittelalter auch als Urkundenzeitalter bezeichnet. (Die Neuzeit wird hingegen als Aktenzeitalter verstanden.)

Urkunden

Der Definition nach wird unter einer Urkunde "ein unter Beobachtung bestimmter Formen angefertigtes und beglaubigtes Schriftstück über Vorgänge rechtserheblicher Natur" (von Brandt, Werkzeug: 82) verstanden. Obwohl eine Urkunde für mittelalterliche Rechtsgeschäfte nicht zwingend notwendig war, da sie meist nur mündlich abgeschlossene Rechtshandlungen nachträglich bestätigte, zeigt ihre dichte Überlieferung, dass die Verschriftlichung für die mittelalterlichen Menschen einen hohen Stellenwert hatte. Durch die Analyse sind Einblicke besonders in das Recht, die Verfassung, die Gesellschaft und Wirtschaft des Mittelalters möglich. Die Hilfswissenschaft, die sich mit den Urkunden beschäftigt, ist die Diplomatik. Zur Vermeidung von Überschneidungen sei deswegen hier auf die "Lerneinheit Diplomatik" unter "Hilfswissenschaften" verwiesen, in der die wesentlichen Aspekte, die die Urkunden betreffen, dargestellt werden.

Formelsammlungen

Formelsammlungen oder lateinisch auch "formulae" waren Muster für die Urkundenausfertigung. Sie beinhalten echte und nur für die Formelsammlung erstellte Urkunden, die sich auf verschiedene Rechtsgeschäfte beziehen. An der Stelle, an der die Namen der Empfänger etc. stehen, sind hier in der Regel als Platzhalter "N." oder "ille" (= jener) vermerkt. Diese Urkunden haben zwar keine Rechtskraft, zeigen dem Forscher aber für welche Rechtsgeschäfte Bedarf an Vorlagen in einer Kanzlei herrschte. Auch die Gepflogenheiten einer Kanzlei und die Bewertung der urkundlich zu dokumentierenden Zustände können erschlossen werden. Durch die Formulae wurde zudem der Zustand des Gewohnheitsrechts dokumentiert. Es sind einige Sammlungen schon aus den Germanenreichen erhalten, die das Urkundenwesen von den Römern übernommen hatten. Die fränkischen Formulae Andegavenses gehen auf das Ende des 6. Jahrhunderts zurück. Am berühmtesten sind aber wohl die Formulae Marculfi. Aus der Kurie sind Formelbücher seit dem 13. Jahrhundert überliefert. Im Hoch- und Spätmittelalter fallen Brief- und Urkundenbücher vielfach zusammen. Die überlieferten Formulae aus der Reichskanzlei stammen erst aus dem Spätmittelalter.

Constitutiones und Reichstagsakten

Unter die Konstitutionen fallen Dokumente vielfältiger Formen und Inhalte. Es gehören dazu wichtige Verfassungsurkunden wie die "Goldene Bulle" von 1365, die die Wahl des römisch-deutschen Königs regelte, die Konkordate zwischen Kaiser und Papst - am bekanntesten dürfte das Wormser Konkordat von 1122 sein, das den Investiturstreit beendete - und Verträge zwischen dem König und den geistlichen und weltlichen Großen (z.B. die englische "Magna Charta"). Innerhalb der Constitutiones müssen die Landfrieden, die die kirchlich-synodalen Gottesfrieden zum Vorbild hatten, als eigene Gruppe hervorgehoben werden. Sie sollten Gewaltakte verbieten und die innere Ordnung erhalten. Die ersten Landfriedensbestimmungen wurden von Heinrich IV. 1103 erlassen. 1235 erlebten sie im Mainzer Reichslandfrieden einen Höhepunkt. Die Reichstagsakten sind hingegen kein mittelalterlicher Quellentyp, sondern die neuzeitliche Zusammenstellung und der Name der entsprechenden Edition. Es sind Quellen, die im Reich während und begleitend bei der Abhaltung von königlichen und kurfürstlichen Reichstagen bzw. Städte- und Fürstentagen entstanden sind. Sie umfassen meist Ladungsschreiben, Teilnehmerlisten, Briefe, Gesandtenberichte, Protokolle, Reden, königliche Propositionen, Vorschläge der Stände und Abschiede (= die Ergebnisse der Reichstage). Der Quellenwert der Constitutiones und Reichstagsakten liegt schwerpunktmäßig auf der politischen Geschichte.

Testamente

Auch Testamente, die in bestimmten Formen abgefasst werden mussten, haben urkundlichen Charakter. In verschiedenen Formen gab es sie im ganzen Mittelalter. Die spätmittelalterlichen Bürgertestamente sind besonders zahlreich überliefert. Testamente geben Aufschluss über die Familien- und Besitzverhältnisse, das Familienbewusstsein sowie Sterbe- und Todesvorstellungen. Sie sind daher hervorragende Quellen für mentalitäts- und alltagsgeschichtliche Fragestellungen. Aus Herrschertestamenten sind hingegen politische Absichten besonders deutlich erkennbar.

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