Geschichtsdichtung

Der Geschichtsbericht in Versen erfreute sich großer Beliebtheit. Eine eigene Gattung ist die Geschichtsdichtung allerdings nur der Form nach, da sie inhaltlich sehr verschiedenartig ist und sich auch auf alle inhaltlichen Formen beziehen konnte. Die Dichtung selber stand eben im Mittelalter allen - auch nicht historischen - Stoffen offen. Aus mittelalterlicher Sicht wurde die Grenze zur Historiographie nicht überschritten, die Geschichtsschreibung erhielt vielmehr eine Formvollendung. Geschichte als Dichtung bestimmte das Geschichtsbild der Laien deutlich stärker als die klerikale Buchtradition. Für den heutigen Forscher erweitert sie das Wissen um die Ereignisgeschichte allerdings nur selten. Dadurch, dass sie etwas über das Geschichtsbewusstsein der Laien aussagt, zeigt sie typische Denkmuster und verbreitete Ansichten der Zeit auf und ist deshalb für die Mentalitätsgeschichte eine Quelle ersten Ranges.

Die Entwicklung der Geschichtsdichtung im Mittelalter:

Die Germanen kannten keine Geschichtsschreibung, aber schon Tacitus bemerkte, dass ihre "alten Lieder" ihre historische Tradition festhielten. Leider ist aufgrund der fehlenden Schriftlichkeit nichts von ihnen erhalten. Doch auch später wurden solche Lieder noch komponiert, und besonders die Völkerwanderung gab dazu neues Material. Die gotischen Lieder über Dietrich von Bern und Hildebrand und Hadubrand etc. waren bei den Germanen sehr belieb. Sie wurden allerdings erst spät aufgeschrieben. Die ersten Historiker der Franken, Langobarden und Sachsen etc. mussten auf die "alten Lieder" zurückgreifen, um die Ursprünge der Völker zu beschreiben. So nutzte Cassiodor sie zur Abfassung seiner Gotengeschichte. Auch danach wurde Geschichte besonders für Laien noch in Versen abgefasst. Karl der Große ließ sie aufschreiben und verschaffte ihnen so eine Aufnahme ins Schrifttum. In England wurde zu der Zeit das Beowulf-Lied aufgeschrieben. Ludwig der Fromme hingegen führte Karls Bemühungen nicht weiter, da er die heidnischen Lieder verabscheute. Im Gegenzug förderte er die Abfassung von christlicher Dichtung in Volkssprache. Insgesamt wurde zum Ende des 9. Jahrhunderts nur noch selten Geschichtsdichtung schriftlich festgehalten. Ebenso vereinzelt wurde germanische Heldendichtung in lateinische Hexameter übertragen wie dies im "Waltharius" geschah. Dennoch erwähnten zahlreiche Chronisten, dass immer noch volkssprachliche Lieder über Personen und Ereignisse der Gegenwart und der Vergangenheit verfasst und dargeboten wurden. In der Regel herrschte im Klerus eine Abneigung gegen diese Gesänge - wohl auch deswegen, da die mittelalterliche Dichtung viel Kirchen- und Gesellschaftskritik beinhaltete. In Frankreich ist mit dem Rolandslied eines der bekanntesten Heldenlieder entstanden. Nach Herbert Grundmann zeigt sich darin die Vereinigung der volkstümlichen Erinnerung an die Karolingerzeit, dem ein erwachender Nationalstolz beigemischt wurde. Zahlreich kam seit 1098 Kreuzzugslyrik in Latein und Volkssprache auf. Die volksprachliche Geschichtsdichtung nahm zu dieser Zeit einen starken Aufschwung. Die Grenze zur fiktiven Dichtung wurde hier aber besonders häufig überschritten. Geschichte in Versform war die übliche Form des Kontakts der Laien mit Geschichte. Kleriker, die aufgrund ihrer Lesefähigkeit auch den Bereich der schriftlichen Historiographie nutzen konnten, ließen sich auf diese Gegebenheiten ein und versuchten in Liedform neben historischem Wissen auch Heils- und Heiligengeschichte unter das Volk zu bringen und so die Heldengeschichtsdichtung zumindest partiell zu verdrängen. Dies geschah z.B. im Annolied, in dem das Leben Erzbischofs Annos II. von Köln in die Weltgeschichte eingeordnet wurde. Aber auch in nicht heilsgeschichtlichorientierten Dichtungen waren historische Stoffe sehr beliebt. Als Geschichte dürfte auch das recht verbreitete Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht aufgefasst worden sein, welches in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts aus dem Französischen übernommen wurde. Als Sujet ebenso beliebt waren der Krieg um Troja, Aeneas und Personen bzw. Ereignisse aus der Völkerwanderungszeit wie Dietrich von Bern und das Nibelungenlied. Gegenwartsgeschichte hingegen wurde selten behandelt. Von den mittelalterlichen Menschen wurden Reimchroniken besonders geschätzt, aus denen sie ihr Geschichtsbild hauptsächlich bezogen. Erst seit dem 13. Jahrhundert fanden auch Personen und Ereignisse der Gegenwart verstärkt Beachtung, so z.B. die Eroberung und Bekehrung Livlands in der Livländer Reimchronik oder die Übersetzung der Chronik des Preußenlandes von Peter von Dusburg in Verse durch Nikolaus von Jeroschin. Ab dem 14. und 15. Jahrhundert bekam jede Stadt und jede Landschaft ihre Reimchronik. Insgesamt wurden durch die Geschichtsdichtung hauptsächlich Episoden geschildert, bei denen besonders Kriegshandlungen überwogen. Aber auch ganze Weltchroniken wurden in Verse gekleidet, so von Gottfried von Viterbo und später von Rudolf von Ems und Jans Enikel.

Vorige Seite