Die mittelalterliche Geschichtsschreibung in Epochen 3

Das Spätmittelalter

Die Historiographie des Spätmittelalters war insgesamt vielfältiger und mehr an lokalen Begebenheiten orientiert. Die lokale oder regionale Orientierung hatte ihre Anfänge aber schon im 12. Jahrhundert. Parallel mit der Einschränkung des Publikums findet sich eine verbreitetere Alphabetisierung und ein Eindringen in den volksprachlichen Bereich. Obwohl jetzt - so Grundmann - manche Werke unbedeutender waren als die Werke der vergangenen Zeiten, lieferten sie aufschlussreiche Ergebnisse zum sozialen und kulturellen Wandel. Die Historiographie ist - zumindest im römisch-deutschen Reich - nun nicht mehr so stark durch epochale Ereignisse und Persönlichkeiten bestimmt. In Frankreich und England sind erste Zeichen einer an "Nationen" orientierten Geschichtschreibung zu erkennen, u.a. in Titeln wie "Gesta regum" und den "Grande chroniques de France" (hier wird die kapetingische Geschichte als legitime Fortsetzung des Frankenreiches verstanden und dargelegt). Ein weiteres politisch-historisches Interesse weckte erst wieder der Streit zwischen Ludwig dem Bayern und dem Papsttum Avignons. Prokaiserliche Verherrlichung und historische Rechtfertigung stand der Verketzerung Ludwigs durch gegenkaiserliche Historiographen gegenüber. Die Geschichtsschreibung lebte insgesamt auf und nahm an Fragen der Kirche und des Reiches teil, meist, indem die Geschichte als Beweis für politisch-rechtliche Ansprüche herangezogen wurde.
In Kaiser Karl IV. versuchte sich ein gekröntes Haupt selbst an der Darstellung seiner Jugend und der Vita seines Vorfahren, des heiligen Wenzel. Hier deutet sich der letzte Schritt der Historiographie an, der nämlich das Individuum und seine Familie als beschreibungswürdig anerkannte. Auch für diese Entwicklung finden sich Anfänge schon im 12. Jahrhundert, während sich im römisch-deutschem Reich diese Erscheinung erst im 14. oder 15. Jahrhundert zeigte.
Besonders in Frankreich stand die memoirenhafte Zeitgeschichte in Volkssprache (z.B. Froissart und Commines) in voller Blüte. Im Reich schrieb nur Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., für Kaiser Friedrich III. die Geschichte Österreichs. Es war die Zeit der Landesgeschichtsschreibung der fürstlichen Territorien und die bürgerliche Historiographie in den Städten gekommen. Man wählte jetzt einen näheren und vertrauteren Gegenstand. Herbert Grundmann (Geschichtsschreibung: 68) bewertet dies so: "Was diese Geschichtsschreibung an politischem Verständnis und Weitblick verliert, gewinnt sie an intimeren Reizen." Zudem erreichte die Historiographie in den Städten eine neue nicht-klerikale Leserschicht.
In der Stadt wirkten auch die Bettelorden, die im Vergleich zu den Benediktinern, den Wissenschaften, aber auch der Geschichtsschreibung ein neues Aussehen verliehen. Für die eigene Tätigkeit brauchten die Mitglieder der Bettelorden übersichtliche Geschichtskompendien, deren Nachfrage u.a. der Dominikaner Martin von Troppau bediente, der eine schematische, anekdotenreiche Papst- und Kaiserchronik verfasste, die weite Verbreitung und Rezeption erfuhr. Handbücher, die teils stark verkürzt wurden, lieferten die historische Allgemeinbildung an der regionale Sonderinteressen anknüpfen konnten. Die Weltgeschichte wurde für Prediger auf eine chronologisch geordnete fromme Stoff- und Beispielsammlung, die mit Bibelsprüchen und Anekdoten durchsetzt ist, reduziert. Daher gehörten zu den ersten Chronisten der Städte auch zahlreiche Bettelmönche.
Die humanistischen Einflüsse hatten durch ihre antikisierende Lateinbildung und nationalgeprägte Geschichtseuphorie zugleich eine belebende wie befremdende Wirkung. In den Städten wurde eine aus Italien stammende frühhumanistische, welthistorische Kompilation von humanistisch-interessierten Bürgern gepflegt. Beispielsweise Hartmann Schedel erzählte in seinem "Liber chronicarum" die Geschichte der Welt, gegliedert nach den sechs "aetates" vom Anfang über die Gegenwart bis zum Jüngsten Gericht.

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