Historiographie

"Historiographische Quellen sind zum Zweck der historischen Erinnerung verfasst und sollen die Zeitgenossen und/oder die Nachwelt über die Gegenwart und/oder Vergangenheit unterrichten" (Goetz, Proseminar: 110).

Die mittelalterliche Historiographie ist inhaltlich eine Faktenerzählung, in der das erinnerungswürdig Wahre, im Gegensatz zum Fiktiven, in chronologischer Reihenfolge berichtet werden soll. Alle Historiographen wollten dabei die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpfen.
Die Chronologie, das grundlegende Strukturelement, ist manchmal unsicher und ungenau aufgrund mangelnder Informationen. In die Berechnung wurde allerdings oft größte Energie investiert. Auch gab es im Mittelalter einen anderen Wahrheitsbegriff als heute, so dass die obigen Kriterien je nach Autor, Ort und Zeit unterschiedlich eingeschätzt werden müssen. So wurde z.B. auch die Hagiographie im Mittelalter zur Geschichtsschreibung gerechnet.

Zwecke und Ziele

Geschichtsschreibung wurde nicht zum Selbstzweck betrieben. So lagen hauptsächlich belehrende, ethische (die auf das richtige Handeln abzielende), politische aber auch unterhaltende Absichten zu Grunde. Auch konkrete Rechtsansprüche oder Propagandaabsichten konnten vertreten werden, indem die Geschichte zur Rechtfertigung der Gegenwart eingesetzt wurde. Historische Beweise wie Alter, Herkunft oder Präzedenzfälle wurden so in den Dienst der eigenen Institution gestellt. Am Beispiel des Investiturstreites lässt sich zeigen, dass die Parteien oft weniger logische Argumente und systematische, widerspruchsfreie Theorien als historische Beweise anführten, sondern vielmehr gewichtige Ereignisse der Vergangenheit und Äußerungen von Autoritäten. Hier zeigt sich ein Unterschied zur heutigen Geschichtsauffassung, die Ereignisse, Äußerungen und Strukturen als zeitgebunden ansieht, während im Mittelalter Zeitlosigkeit angenommen wurde. Widersprüche und die konkrete Situation, in der Äußerungen getan wurden, waren nicht so wichtig. Die Zeitlichkeit von Geschichte, d.h. die Annahme von Vorläufigkeit und Veränderbarkeit, war dadurch beinahe aufgehoben. Daher war in der Vergangenheit die Zukunft eigentlich enthalten und der Modell- und Rechtfertigungscharakter von Geschichte unterstrichen. Diese Auffassung war u.a. die geistige Grundlage für zahlreiche Fälle fingierter Geschichte und unbeweisbarer Argumentation wie die Vorrangstellung der christlichen Gemeinde Roms aufgrund der angeblichen Anwesenheit Petri oder die von Fredegar behauptete Abstammung der Franken von den Trojanern. Die Historiographie als Lehrschrift war mit Ereignissen als "exempla" auch meist mehr oder weniger heilsgeschichtlich ausgelegt und zeigte in den Fakten den göttlichen Heilsplan auf, wodurch der den Ereignissen zu Grunde liegende Sinn ergründet werden konnte. ("Historia" ist eigentlich die wörtliche Auslegungsart der Bibel.) Das alles heißt aber nicht, dass konkret weltliche Einflussnahmen ausgeschlossen wurden.

Die Themen

Thematisch war die Historiographie überwiegend politisch, heilsgeschichtlich oder institutionell konzentriert: Politische Geschichte befasste sich im Besonderen mit Kriegsgeschichte, den Taten großer Männer und Kirchengeschichte, die eine imminent politische Dimension hatte. Die heilsgeschichtliche Orientierung wollte die "Hand Gottes in der Geschichte" nachweisen. Dies konnte der Hauptzweck sein, zuweilen aber auch nur noch neben konkret-weltlichen Aspekten angedeutet werden. Die Vorstellung, dass Gott der Lenker der Geschichte ist, wurde aber nie aufgegeben. Die institutionelle Gebundenheit resultierte aus der Tatsache, dass die meisten Historiographen für eine Institution schrieben, z.B. für Kloster, Bistum, Stadt etc., der sie zumeist auch angehörten. Der institutionelle Bereich schloss im Früh- und Hochmittelalter den privaten Bereich völlig aus. Erst im Spätmittelalter wurde das private Individuum als beschreibungswürdig angesehen.

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