Quellenpaket 9

Bearbeitet von Tim Albrecht


Holsteiner Grafen verleihen dem Rat das Willkürrecht (1292)

Vorbemerkung

Das vorliegende Privileg stellt einen wichtigen Schritt im Autonomisierungsprozess Hamburgs dar, und markiert einen Höhepunkt und ersten Abschluss des Aufstiegs des Stadtrates. Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts erschien dieses Privileg dem Hamburger Bürgermeister Hermann Langenbeck als so wichtig, dass er es wortwörtlich in das Vorwort zur Neufassung des Stadtrechts von 1497 aufnahm (-> Lappenberg, S. 169).

Bei den Grafen Adolf V. und Johann II. handelt es sich um Söhne Johanns I. von Kiel, bei Gerhard II., Adolf VI. und Heinrich I. dagegen um Söhne von dessen Bruder, Gerhard I. von Itzehoe (siehe auch die Stammbäume des Hauses Schauenburg). Daß die Vettern alle zusammen holsteinische Grafen sind, ist durch die Erbteilungen der Schauenburger zu erklären. Gegenüber der Stadt Hamburg vertreten sie die Ansprüche ihres Hauses gemeinsam.

Die Namen der als Zeugen aufgeführten Hamburger Ratsherren belegen, dass sich alte und vornehme Geschlechter in der Stadt angesiedelt hatten und dem Rat zu jener Zeit eine stark aristokratische Prägung gaben. Drei der Genannten (Johann Ridder, Heinrich Lange und Hartwig von Erteneburg) sind als spätere Bürgermeister der Stadt belegt.

Im Original ist die Urkunde mit den Wachssiegeln der fünf Grafen versehen. Erläuterte Abbildungen dieser gräflichen Siegel sind der Quelle als Anhang beigefügt.


Quelle

Die Grafen von Holstein bestätigen die Privilegien der Stadt Hamburg und verleihen derselben das Recht der Köre

Adolfus, Gherardus, Johannes, Adolfus et Hinricus, Dei gratia comites Holsacie & in Scowenburg, omnibus presentia visuris constare volumus & notum esse, nos omnes libertates et indulta a diuis imperatoribus, verum et nostris progenitoribus dilectis nobis consulibus ac vniuersitati ciuitatis nostre Hamburgensis factas et donatas, ratas & gratas habentes, presentibus confirmare perpetuo et libere fruituras. Concedimus etiam et donamus eisdem ius tale, quod wlgo kore dicitur, statuta mandare et edicta promulgare secundum beneplacitum eorum, pro utilitate & necessitate ciuitatis predicte ac eorundum, & reuocare eadem, qvocienscunqve & qvandocunqve ipsis visum fuerit expedire.
Conferimus nichilominus eisdem de mera et libera voluntate nostra, ut iura sua et sententias nusquam alias, id est, foris ciuitatem, quam in domo consulum ipsius ciuitatis, secundum scripta libri ipsorum liberius exsequantur, tali condicione adiecta, quod nec pauperi aut diuiti, uel alicui ex parte nostra postulanti, qui sibi autumauerit et suspicauerit minus iuste esse sentenciatum et iniuriam irrogatam, si pecierit, ipsius libri copia nullatenus denegetur.
Donamus eis preterea plenam et perfectam potestatem super causis emergentibus, de quibus non est sentenciatum in libro predicto, nouum ius creandi et statuendi de communi consensu consulum et presencia, pro sue libito voluntatis. Ita tamen, ut huiusmodi ius, sic de nouo creatum, libro prefato inscribatur et pro perpetuo iure ab ipsis ac ipsorum posteris postmodum teneatur. Prouiso tamen, ut ipsum ius siue sententia taliter statuta & facta ad detrimentum et dampnum siue inpugnacionem exactionum et iustitiarum, quas in ipsa ciuitate nunc ad presens habemus et futuris temporibus habere poterimus iure hereditario, nullatenus se extendat.
Vt autem hec omnia et singula superius expressa firma ac inconwlsa permaneant et inviolabiliter a nobis et nostris posteris obseruentur, presentes litteras conscribi fecimus & sigillorum nostrorum munimine roborari.
Datum et actum in ciuitate Hammenburgensi, anno Domini MCCXCII, feria quinta post Letare, videlicet in vigilia beati Benedicti.
Huic autem ordinacioni presentes fuerunt: Johannes de Slamersdorpe, Hinricus de Kuren, Echgericus de Otteshude, Tidericus Hoken, Bertoldus de Horst, Hermannus de Hamme, Johannes Swin; milites. Otto de Tvedorpe, Helling Bernus, Nicolaus de Rokesberghe, Johannes Riddere, Hinricus Longus, Ecgo de Hadeleria, Hartuicus de Erteneborg, consules Hammenburgenses, et alii quam plures fide digni.

Datum per manus notarii nostri, domini Johannis, in Luttekenborg ecclesie rectoris.

Übersetzung (überarbeitete und ergänzte Version von Prof. Dr. G. Theuerkauf)

Wir, Adolf (V.), Gerhard (II.), Johann (II.), Adolf (VI.) und Heinrich (I.), von Gottes Gnaden Grafen von Holstein und in Schauenburg, tun hiermit allen, die dieses sehen mögen werden, kund und zu wissen, daß wir alle Freiheiten und Privilegien, die von den göttlichen Kaisern, aber auch von unseren Vorfahren unseren lieben Ratsmannen und der Gemeinde unserer Stadt Hamburg verliehen und geschenkt worden sind, anerkennen und billigen, und durch die gegenwärtige [Urkunde] bestätigen, damit sie ewig und frei genossen werden. Wir gewähren und schenken ihnen auch solches Recht, das in der Volkssprache "kore" genannt wird, [nämlich] Gesetze anzuordnen und Verordnungen zu veröffentlichen nach ihrem Belieben, zum Nutzen und Bedarf der vorgenannten Stadt und dem ihren [d.h. dem Bedarf und Nutzen der Ratsmannen und Gemeinde], und sie zu widerrufen, sooft und wann immer es ihnen nützlich zu sein scheint.
Wir tragen ihnen nichtsdestoweniger aus unserem unbeschränkten und freien Willen auf, dass sie ihre Rechtssprüche und Urteile nirgends anders als im Rathaus derselben Stadt, gemäß des schriftlichen Wortlautes ihres Buches [des Stadtrechtsbuches] frei fällen, mit der zusätlichen Maßgabe, dass dem Armen oder Reichen oder jemandem, der es von unserer Seite fordert, der meint und vermutet, dass weniger gerecht geurteilt und Unrecht zugefügt worden sei, wenn er darum bittet, eine Abschrift desselben Buches keineswegs verweigert werde. [Vgl. das Hamburger Stadtrecht von 1301]
Wir verleihen ihnen außerdem die vollständige und vollkommene Befugnis, über entstehende Streitsachen, über die in dem vorgenannten Buch nicht geurteilt ist, neues Recht zu schaffen und zu setzen aufgrund der allgemeinen Zustimmung und in Gegenwart der Ratsmannen, nach dem Ermessen ihres Willens; so jedoch, dass derartiges Recht, das auf diese Weise neu geschaffen worden ist, in das vorgenannte Buch eingetragen und von ihnen und später von ihren Nachfolgern für ewiges Recht gehalten werde; vorbehaltlich jedoch dessen, dass derselbe Rechtsspruch oder dasselbe Urteil, solcherart gesetzt und gemacht, auf den Nachteil, den Schaden oder die Bestreitung von Abgaben und Rechten [wörtl.: Gerechtigkeiten], die wir in derselben Stadt gegenwärtig haben und in künftigen Zeiten durch Erbrecht haben werden, sich keinesfalls erstrecke.
Damit aber dieses oben dargestellte samt und sonders dauerhaft und unverändert bestehen möge und von uns und unseren Nachkommen als unverletzlich betrachtet werden möge, haben wir persönlich (in unserer Gegenwart?) diesen Brief niederschreiben lassen und unsere Siegel zur Bekräftigung daran befestigt. Gegeben und angefertigt in der Stadt Hamburg, im Jahre des Herren 1292, am fünften Tage (Donnerstag) nach L[a]etare, und zwar in der Wacht des heiligen Benedikt.
Bei dieser Verleihung waren ferner anwesend: Johann von Slamersdorp (Schlamersdorf), Heinrich von Kuren, Eckhard von Otteshude, Dietrich Hoken, Bertold von Horst, Hermann von Hamme, Johann Swin; Ritter. Otto von Twedorp, Helling Bernus, Nikolaus von Rocksberg, Johann Ridder, Heinrich Lange, Egge von Hadeln, Hartwig von Erteneburg, Ratsherren Hamburgs, und andere mehr die ehrbar und würdig sind.

Gegeben zu Händen unseres Notars, des Herren Johann, Kirchrektor in Luttekenborg.


Anhang: Siegel der Grafen von Holstein

Adolf V. und Gerhard II.

Die Siegel Nr. 9 und 10 sind dem in der Quelle genannten Adolf V. (genannt "der Pommer") zuzuordnen, Nr. 13 dem ebenfalls genannten Gerhard II. (genannt "der Blinde"). Nr. 9 stammt von 1273. Die Inschrift lautet: "S' ADOLFI COMITIS HOLTSACIE ET [...] (P)OMERANOR"
Nr. 10 wurde im Zeitraum von 1280-1302 nachweislich verwendet. Die Inschrift lautet: "S' ADOLPHI COMITIS HOLTSATIE DUCIS POMERANOR"
Nr. 13 wurde von Gerhard während seiner gesamten Herrschaftszeit unverändert verwendet, Nachweise finden sich im Zeitraum von 1274-1311. Die Inschrift lautet: "S' GERHARDI COMITIS HOLSACIE IN SCHOWBURAH"
Auf allen drei Siegeln ist das Nesselblatt, kennzeichnendes Symbol des Hauses, deutlich zu erkennen, wie es uns auch heute noch im Wappen Holsteins und Kiels begegnet. Der Ursprung dieses Zeichens ist umstritten, es wird zum Teil als geometrisches Muster, zum Teil aber eben auch als stilisiertes Nesselblatt gedeutet, da die Stammburg des Geschlechts einst auf dem "Nesselberg" erbaut worden ist. Die Farbgebung des Wappens war schon damals weiß-rot.


Adolf VI. und Heinrich I.:

Siegel Nr. 14 und 15 sind solche des Grafen Adolf VI. (genannt "der Ältere"), Nr. 16 das des Grafen Heinrich I., Nr. 17 das Wappen seiner Witwe, Heilwig (bzw. Heylwig). Nr. 14 ist 1302 und 1303 nachweisbar. Es handelt sich um ein Reitersiegel, welches den oben abgebildeten Siegeln ähnelt. An der Helmzier fallen die zwei Pfauenschweife auf, wie sie auch Siegel Nr. 10 zeigt - ebenfalls also ein typisches Zierzeichen der Holsteiner Grafen. Hervorheben tut sich das Siegel durch die Einfügung eines Sterns und eines Zweiges mit vier Beeren. Die Inschrift lautet: "S' ADOLPHI COMITIS DE SCHOWEBORAH"
Nr. 15 ist ein kleineres Wappensiegel von 1295. Hier treten die Pfauenschweife und das Nesselblatt noch deutlicher hervor. Die Inschrift: "S' ADOLPH DOMICELLI HOLTSACI".
Nr. 16 ist einmal mehr ein Reitersiegel, das mit dem Siegel von Heinrichs Vater, Gerhard I. (siehe unten), nahezu identisch ist, mit Ausnahme der Ergänzung um einen Stern. Es findet sich an Urkunden von 1295-1302, die Inschrift lautet: "S' HINRICI COMITIS HOLTSATIE DE SCOWENBRAH".
Nr. 17 ist als Witwensiegel eine Besonderheit, es zeigt die Gräfin auf einem kunstvoll gestalteten Stuhl, in ihrer rechten Hand den Wappenschild ihres verstorbenen Gemahls, in ihrer Linken den ihres Vaters, Florentius von Brunkhorst, darüber rechts einen Stern und links eine Mondsichel. Das Wappen stammt von 1304, die Inschrift lautet: "S' HEYLEWIG (CO)MITISSA IN HOLTSACIA".


Johann II.:

Während Nr. 5 das Siegel Gerhards I. und Nr. 6 das seiner Gemahlin Elisabeth darstellt, die für die Quelle nicht von unmittelbarer Bedeutung sind, handelt es sich bei Nr. 7 und 8 um Siegel Johanns II. (genannt "der Einäugige"). Das erste Siegel, das für den Zeitraum von 1271-1302 belegt ist, zeigt das übliche Reiterbild, das hier vor allem durch fehlende Helmzier und das zum Zuschlagen erhobene Schwert auffällt. Die Inschrift lautet: "S' JOHANNIS COMITIS HOLTZATIE". Siegel Nr. 8 von 1318 ist nur sehr schlecht erhalten, scheint aber dem vorigen Siegel stark zu ähneln.

Entnommen dem Sammelband: Siegel des Mittelalters aus den Archiven der Stadt Lübeck, 1879 herausgegeben vom Verein für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde (Herausgeber des betreffenden Teilheftes: C. J. Milde)